
New Work, KI und Future Skills: Wie Unternehmen den Wandel der Arbeitswelt meistern können
Aktuelle Studien zu Trends in der Arbeitswelt listen jene Themen auf, die Organisationen gegenwärtig beschäftigen, ganz zuoberst stehen Fachkräftemangel, Künstliche Intelligenz, steigende Anzahl an Personen mit psychischen Erkrankungen. Im Interview erklärt uns Prof. Dr. Andrea Belliger, Expertin für Digitale Transformation und New Work, was das für Organisationen bedeutet und wie diese damit nachhaltig umgehen können.
"New Work als vielschichtiges gesellschaftliches, organisationales und kulturelles Phänomen, das weit über Technologie hinaus geht, begeistert mich."
Frau Prof. Belliger, es gibt zahlreiche Studien zum Wandel der Arbeitswelt. Welche Trends sind gegenwärtig erkennbar?
Andrea Belliger: Ganz zuoberst steht der Umgang mit dem Arbeitskräftemangel. Unternehmen sehen sich mit grosser Dringlichkeit gezwungen, Strategien zur Bindung und Gewinnung von Talenten zu entwickeln. Dabei setzen sie auf New Work-Ansätze, um als Arbeitgeberin attraktiv zu bleiben.
Was genau verstehen Sie unter New Work?
Andrea Belliger: New Work ist ein Ansatz, der Flexibilität, Autonomie und eine sinnstiftende Tätigkeit in den Mittelpunkt stellt. Es geht darum, Arbeit so zu gestalten, dass sie den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Menschen entspricht. New Work hört sich zwar hipp an, ist aber tatsächlich gar nicht neu. Geprägt in den späten 70er Jahren durch den Sozialphilosophen Frithjof Bergmann, entstand New Work als Antwort auf die damalige Krise in der amerikanischen Automobilindustrie und den Beginn der Automatisierung. Es gab immer weniger Jobs für Menschen und die New Work-Bewegung hat das zum Anlass genommen, das System unserer Erwerbsarbeit kritisch zu hinterfragen.
Lässt sich diese doch etwas utopische Philosophie auf heutige Unternehmen übertragen?
Andrea Belliger: Absolut. Bergmanns Vision von Arbeit als etwas, das über das blosse Geldverdienen hinausgeht, ist heute relevanter denn je. Er sah Arbeit als "milde Krankheit", die man im besten Fall mit etwas Leiden aushält bis zur Pensionierung und im schlechteren Fall mit Burnout und Erschöpfungsdepression bezahlt. Stattdessen forderte er eine Arbeit, die mit persönlichen Wünschen und Fähigkeiten im Einklang steht – ein Plädoyer für Selbstverantwortung, Freiheit, Sinn, soziale Teilhabe und Verantwortung für das grosse Ganze, wir würden dem heute vielleicht gesundes Wachstum oder Sustainability sagen. Diese Ideen sind der Ursprung von „New Work“, und sie adressieren weit über Home Office, schicke Openspace-Büros oder M365 hinaus ein sehr vielschichtiges Thema. Interessant ist die historische Parallele zu heutigen Herausforderungen, wie der Bedrohung unser Jobs durch KI, und die Tatsache, dass wir uns heute ganz ähnliche Fragen wie damals stellen.
Sprechen wir über das Trendthema Nr 1, das uns alle umtreibt, Künstliche Intelligenz…
Andrea Belliger: KI war schon in den Vorjahren ein Trendthema, dieses Jahr sehen wir aus den Future Work Studien aber einerseits eine explodierende Nutzung von generativer KI durch Mitarbeitende und einen signifikanten Anstieg von Fachkräften, die erworbene KI-Fähigkeiten zu ihren Profilen z.B. auf LinkedIn hinzufügen. Auf der anderen Seite ist aber auch die vor allem von Führungspersonen geäusserte Besorgnis spürbar, dass ihre Unternehmen keine klare Vision und Strategie für die Implementierung von KI haben, obwohl sie die Notwendigkeit der Technologie erkennen. Zudem stellt sich in diesem Zusammenhang immer drängender die Frage nach der Zukunft unserer Jobs und den Kompetenzen, die wir künftig in unseren Unternehmen benötigen.
Womit wir beim Thema «Future Skills» gelandet wären? Ist das mehr als ein Hype-Begriff?
Andrea Belliger: Auch wenn der Begriff «Future Skills» ein gewisses Hype-Potential hat, so ist die Thematik doch grundlegend wichtig und es lohnt sich etwas genauer hinzuschauen. Gefragt sind nämlich Kompetenzen, die weit über digitale Fähigkeiten wie cleveres Prompting hinausgehen. Im Bericht des Weltwirtschaftsforums über die Zukunft der Arbeitsplätze werden Schlüsselqualifikationen genannt, die in den kommenden Jahren unverzichtbar sein werden. Diese Fähigkeiten sind nicht nur für die individuelle Karriereentwicklung entscheidend, sondern auch für die Widerstandsfähigkeit und Innovation von Unternehmen.
Können Sie diese Fähigkeiten etwas genauer benennen?
Andrea Belliger: Als Zukunftskompetenzen oder humane Fähigkeiten werden Kompetenzen bezeichnet, die interessanterweise weit über technische und digitale Fähigkeiten hinausgehen. Dazu gehören zum Beispiel kreatives Denken und Problemlösefähigkeit, kognitive Flexibilität, kritisches Denken und reflektiertes Entscheiden. Aber auch die Fähigkeit, Ideen klar und logisch zu kommunizieren, Empathie und die Fähigkeit, aktiv zuzuhören. Angesicht der permanenten Veränderung unserer Welt gehören Fähigkeiten dazu wie visionäres Denken und gleichzeitig die Fähigkeit, diese Ideen auf den Boden zu bringen. Eine wichtige Kompetenz ist die Fähigkeit, mit Überfülle umzugehen. Überfülle an Daten, Informationen und Optionen – man nennt diese Kompetenz «Cognitive Load Management».
Der Blick in die Statistiken zu Arbeitsausfällen in Schweizer Unternehmen und die steigende Zahl psychischer Erkrankungen auch bei jungen Mitarbeitenden zeigt, dass diese Dynamik der Arbeitswelt viele Menschen permanent überfordert und krank macht.
Andrea Belliger: Wir müssen als Einzelpersonen und als Organisationen lernen mit dieser Dynamik umzugehen. Einerseits, indem wir uns bewusst mit den bereits angesprochenen Zukunftskompetenzen auseinandersetzen, andererseits indem wir Führungspersonen in die Pflicht nehmen. Sie spielen eine Schlüsselrolle in der Förderung einer gesunden Arbeitsumgebung, indem sie als Vorbilder agieren, offene Kommunikation fördern und Mitarbeitende in ihrer Entwicklung unterstützen. Dass BGM mit Pausenbewegung, dem Obstkorb im Büro oder dem Zuschuss ans Fitness-Abo nicht getan ist, ist uns allen klar.
Wie kann eine Organisation eine gesundorientierte Führungskultur etablieren?
Andrea Belliger: Der Schlüssel liegt in einem Führungsstil, der die Gesundheit der Mitarbeitenden und die Resilienz der Organisation fördert. Gesundheitsorientierte Führung ist ein sehr vielschichtiges Phänomen: es umfasst Verhaltensweisen zur Förderung der Gesundheit der Mitarbeitenden, berücksichtigt Dynamiken in Teams und die Kultur der gesamten Organisation genauso wie die Selbstfürsorge von Führungspersonen. Es ist wichtig, eine Unternehmenskultur zu etablieren, die von psychologischer Sicherheit geprägt ist und in der Gesundheit und Wohlbefinden keine Tabu-Themen sind.
Das klingt nach einer spannenden Entwicklung. Wie beeinflusst dies die Anforderungen an Führungskräfte?
Andrea Belliger: Die Anforderungen an Führungskräfte haben sich erheblich verändert. In der Vergangenheit lag der Fokus oft auf traditionellen Managementfähigkeiten wie Planung, Organisation und Kontrolle. Heute sind jedoch Fähigkeiten wie emotionale Intelligenz, Anpassungsfähigkeit und digitale Kompetenz entscheidend. Führungskräfte müssen in der Lage sein, ihre Teams durch unsichere und sich schnell verändernde Umgebungen zu führen, und dabei sowohl technologische als auch menschliche Aspekte zu berücksichtigen. Sie müssen als Coaches agieren, die das Potenzial ihrer Mitarbeitenden freisetzen und eine Kultur des kontinuierlichen Lernens und der Innovation fördern.
Zum Abschluss: Was sind Ihre wichtigsten Empfehlungen für HR-Professionals, die sich auf die Zukunft vorbereiten möchten?
Andrea Belliger: Meine wichtigste Empfehlung ist, offen für Veränderungen zu sein und sich kontinuierlich weiterzubilden. Die Arbeitswelt wird sich weiter verändern, und es ist wichtig, flexibel und anpassungsfähig zu bleiben. HR-Professionals sollten sich zudem intensiv mit den «drei Engeln fürs HR» auseinanderzusetzen: New Work, Healthy Leadership und Future Skills, und diese in ihren Unternehmen vorantreiben. Schliesslich ist es entscheidend, eine Kultur des Vertrauens und der Zusammenarbeit zu fördern, in der sich alle Mitarbeitenden wohlfühlen und ihr volles Potenzial entfalten können.
Prof. Dr. Andréa Belliger

Andréa Belliger ist Co-Leiterin IKF Luzern, Professorin, Unternehmerin, Autorin und Verwaltungsrätin in verschiedenen Unternehmen. Sie beschäftigt sich mit dem Thema der Digitalen Transformation in unterschiedlichen Branchen von Gesundheit bis Finanzen, von Bau bis Bildung. Als Theologin und Philosophin interessieren sie dabei die grossen Werte- und Kulturveränderungen genauso wie technologische Trends und Herausforderungen. 2018/19 wurde sie unter die Top 100 Women in Business gewählt und für den Female Digital Leader Award nominiert, 2019 unter die 25 einflussreichsten Persönlichkeiten der Schweiz im Gesundheitswesen gewählt.




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