Interview mit dem IKF-Dozenten Prof. Dr. Christian Lovis

Herr Prof. Dr. Christian Lovis ist Dozent im CAS eHealth – Gesundheit digital am IKF und bewegt sich beruflich in den Themenfeldern zwischen Medizin und Informatik. Er ist Professor der Abteilung der Medizinischen Informationswissenschaften an der Universität Genf, Mitglied der Redaktionsleitung verschiedener grosser Peer-Review-Zeitschriften und involviert in mehrere Arbeitsgruppen der Europäischen Union für ICT-Aktivitäten im Gesundheitsbereich. Ein Beispiel eines EU-Forschungsprojektes ist DebugIT: Bei diesem Projekt ist es das Ziel, basierend auf Informationssystemen ein Netzwerk zu entwickeln, welches die europaweite Überwachung von Infektionskrankheiten ermöglicht. Christian Lovis ist ausserdem Präsident der European Federation for Medical Informatics (EFMI) und Fellow am College of American Medical Informatics Association. 

IKF: Herr Prof. Dr. Lovis, was reizt Sie besonders an der thematischen Verbindung von Informatik und Medizin?

Christian Lovis: Nun, zuerst möchte ich betonen dass Informatik eine Wissenschaft ist, bei der sich alles um Information dreht. Demnach sind die Technologien, wie zum Beispiel Computer, Algorithmen oder Konzepte wie Distribution oder Mobilität, Instrumente dieser Wissenschaft. Die Medizin selbst ist ein bewegendes Zielobjekt. In den Anfängen der Medizin wurde mehr vorgebeugt als geheilt; es wurde öfters versucht zu verstehen, als zu erklären. Interessanterweise stammt einer der ältesten Texte, den man in der Medizin kennt, aus der Zeit um ca. 1800 v. Chr., den so genannten Codex Hammurapi. Darin ist beschrieben, wie man einen Doktor honoriert und was im Falle eines medizinischen Fehlers geschieht. 

Zusammengefasst denke ich, dass die Gesundheit und die Medizin ebenfalls Informationswissenschaften sind. Ohne Daten, ohne Wissen, ohne Kommunikation gibt es keine Medizin, keine Beziehungen zwischen Menschen, Patienten und Pflegenden und auch weder Bildung noch Prävention. Für mich ist also die Informationswissenschaft das wichtigste Werkzeug, um die Gesundheit und die Lebensqualität in der Welt zu verbessern.

IKF: Am IKF unterrichten Sie im CAS eHealth – Gesundheit digital zum Thema «Digital Health: Träume und Herausforderungen». Welche konkreten Träume haben Sie?

Christian Lovis: Ahh Träume… Ist es nicht das Schicksal der Träume nicht realisiert zu werden? Ich liebe Science-Fiction-Autoren, so zum Beispiel Asimov, Herbert, Philip K. Dick oder Simmons und viele weitere. Sie schlagen verschiedenartige Zukunftsdimensionen vor… Klar, einer meiner Träume ist es, in der Welt von Asimov’s Foundation zu leben, wo der Geist in den Vordergrund gestellt wird, und die Menschen das Leben mit Vertrauen und Zuversicht leben. (Anmerkung des IKF: In Asimov‘s Foundation-Trilogie wird das gesamte existierende Wissen in einer galaktischen Enzyklopädie gesammelt und die besten Wissenschaftler ihrer Zeit werden für den Aufbau einer neuen Zivilisation  eingesetzt, um diese zu neuer Blüte zu bringen.)

IKF: Das Schweizer Parlament hat entschieden, dass alle Spitäler bis ins Jahr 2020 das elektronische Patientendossier einführen sollen. Sie waren in den Jahren 2000 bis 2010 für die Entwicklung und Bereitstellung von computergestützten Patientendossiers an den Genfer Universitätskliniken verantwortlich. Was war für Sie in diesem Prozess das grösste «Learning»?

Christian Lovis: Das der Unterschied zwischen sehr kompliziert und einigermassen komplex riesig ist. Elektronische Patientendossiers zu implementieren ist keine technische Herausforderung, es ist eine sehr komplexe, menschliche und kulturelle Herausforderung. Ich denke, dass Misserfolge nicht aufgrund von fatalen Fehlern passieren, sondern durch fehlende Akzeptanz. Es ist nicht möglich, ein Produkt zu kaufen, das den Erfolg garantiert. Erfolg muss sorgfältig gebaut werden, manchmal in Kooperation, Konsens und manchmal mit Autorität und festen Regeln, aber er ist immer abhängig von menschlichen und kulturellen Faktoren.

IKF: Gab es bei der Implementierung auch Herausforderungen oder Probleme, welche Sie nicht vorhersehen konnten und die Sie überrascht haben?

Christian Lovis: Genau wie erwartet, ist nichts passiert. Es wurde alles sorgfältig geplant, tatsächlich war aber von allen involvierten Stakeholdern, vom CEO, CMO, CFO, CIO, Ärzten, Pflegenden, Informatikern bis hin zu den Politikern, eine hohe Adaptions- und Improvisationsfähigkeit verlangt. Ich würde also sagen, dass das elektronische Patientendossier das Nervensystem des Spitals ist und es sich genau so verhalten muss: anpassungsfähig, reaktiv und funktionierend.

IKF: Inwiefern profitieren Patienten von einem elektronischen Patientendossier (ePD)?

Christian Lovis: Nun, diese Frage ist sehr weit gefasst. In der heutigen Zeit können die Patienten dank des elektronischen Patientendossiers ihre eigenen Daten einsehen. Das ist der erste wichtige und meiner Meinung nach der grösste Nutzen. Der zweite Vorteil ist, die Patienten können ihre eigenen Daten teilen und es wird so einfacher, eine Zweitmeinung einzuholen. Aufgrund dieser beiden genannten Vorteile ist die Interoperabilität sehr wichtig. Diese Interoperabilität bildet den dritten Vorteil: Dadurch wird nämlich der Informationsaustausch zwischen den Health Professionals einfacher und damit die Sicherheit und Effizient der Pflege verbessert. Ausserdem kann das ePD bei Entscheidungen unterstützend wirken, wenn alle relevanten Informationen auf dem Computer zugänglich sind. Abschliessend kann gesagt werden, dass durch die Digitalisierung auch die sekundäre Nutzung der Daten für die öffentliche Gesundheit und die Forschung ermöglicht wird. Trotz all dieser Vorteile bleibt in der Literatur umstritten, was den tatsächlichen Nutzen in der heutigen Zeit betrifft. Auf der anderen Seite muss gesagt werden, dass durch ein Electronic Health Record (EHR) ein starker Zeitdruck auf das Pflegepersonal ausgeübt wird, da viel Zeit dafür verwendet wird, Daten in Systeme einzugeben, die nicht immer gut entworfen sind. Auch die Privatsphäre wird zu einer wichtigen gesellschaftlichen Herausforderung.

IKF: Elektronische Patientendossiers, neuartige IT-Systeme im Gesundheitsbereich – die Digitalisierung in Spitälern kann bei den Mitarbeitenden zu Einschüchterung oder Überforderung führen. Was empfehlen Sie als Experte, wie man mit den Bedenken der (zukünftigen) Anwender umgehen kann?

Christian Lovis: Sie sprechen hier einen wichtigen Punkt an. Es ist immer noch nicht leicht zu beantworten, warum diese Systeme oft eine Belastung für das Pflegepersonal darstellen. Aber es gibt immer mehr Belege dafür, dass die Probleme durch schlecht entworfene Systeme, mangelhafte Interoperabilität, schlechtes benutzerorientiertes Design, schlechte daten- und semantisch getriebene Systeme und mangelnde Unterstützung von Prozessen und Workflows entstehen. Das Problem liegt nicht bei der Digitalisierung selbst, sondern bei schlechter Digitalisierung. Das gesamte Ökosystem entwickelt sich wahnsinnig schnell. Systeme, die vor 5 Jahren gebaut wurden, gelten bereits als alt. Ein markantes Beispiel ist hierbei das iPhone: Es wurde vor zehn Jahren zum ersten Mal vorgestellt und mittlerweile hat Apple 11 Versionen von iOS entwickelt. Doch wenn Sie eine halbe Milliarde Franken in die Entwicklung eines EHR investieren, ist es unmöglich, das System alle fünf Jahre zu erneuern und das alte wegzuwerfen. 

IKF: Welche Trends sehen Sie im Bereich eHealth und Digital Health?

Christian Lovis:  Es gibt sehr viele wichtige Trends. Ich möchte bei den momentanen Hype-Themen wie Big Data, künstlicher Intelligenz, verteilte Systeme wie zum Beispiel Blockchain nicht zu sehr in die Tiefe gehen. Ich sehe vor allem einen Trend im Aufbau von digitalen Gesundheitsökosystemen mit neuen Akteuren. Apple, Google, Facebook, IBM, etc. werden dabei oft genannt, aber auch in der Schweiz gibt es relevante Akteure wie zum Beispiel die Migros oder Post. Diese neuen Player bewegen sich in einem kundenorientierten Feld und produzieren Schuhe wie Nike, Kleider wie Under Armour, Fitness-Tracker und Navigationsgeräte wie Garmin, um nur einige zu nennen. Der Trend ist hierbei, dass nicht der Patient im Zentrum steht, sondern der Kunde dank seiner Kaufkraft und den wertvollen Daten. In der digitalen Welt befinden wir uns alle im gleichen geografisch virtuellen Raum und sind alle gleichermassen reich an Daten. Genau dadurch werden die Spielregeln geändert.

IKF: Um noch einmal zum Unterricht am IKF zurückzukommen: Was gefällt Ihnen am Unterricht am IKF besonders?

Christian Lovis: Es ist ein Ort, an den ich mit meiner Kreativität und meinen Ideen kommen und andere Menschen treffen kann, welche auch innovative und disruptive Ideen haben. Ich besuche das IKF, um zu unterrichten, aber am Ende des Tages bin ich immer der, der viel dabei lernt!

IKF: Herzlichen Dank für Ihre spannenden Antworten, Herr Lovis!

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